Migräne – „eingebildete Erkrankung“ gewinnt zunehmend wissenschaftliche Akzeptanz

Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Migräne zu den ersten vier unter den chronischen Krankheiten, die das Leben stark beeinträchtigen.

Der Volkswirtschaft kostet die Migräneerkrankung aufgrund der zahlreichen Arbeitsausfälle und Frühinvaliditäten hohe Geldsummen, allein die Behandlung verschlingt in Deutschland jährlich 500 Millionen Euro, die Folgekosten schätzungsweise das Zehnfache. Nach einer anderen Berechnung kostet Migräne in der EU im Jahr mindestens 27 Milliarden Euro und gilt als die teuerste neurologische Störung.

Über 300 Millionen Menschen weltweit leiden unter Migräne und werden regelmäßig von den heftig pulsierenden Kopfschmerzen Stunden ja oftmals sogar Tage außer Gefecht gesetzt. Begleitet werden diese Symptome von Übelkeit und starker Licht-, oft auch Geräuschempfindlichkeit. Häufig tritt der Kopfschmerz halbseitig auf.

Geschichtliches:
Aus dem Essay: „Im Bett“ von der US-amerikanischen Schriftstellerin Joan Didion in ihrem 1979 erschienenen Band: „Das weiße Album, Eine kalifornische Geisterbeschwörung“ ist ersichtlich, dass offenbar bereits vor Jahrtausenden Menschen an dieser Krankheit litten. Joan Didion schreibt dort u.a.: „Dass noch niemand an Migräne gestorben ist, erscheint jedem, der sich mitten in einem Anfall befindet, als ein schwacher Trost“. Viele Migränepatienten fühlen sich auch heute noch von ihren Ärzten nicht ernst genommen, geschweige denn richtig behandelt. Dies spiegelt sich auch in folgendem Zitat aus dem „Weißen Album“ von Didion wieder: „Denn ich hatte keinen Gehirntumor, keine Überanstrengung der Augen, keinen hohen Blutdruck, mir fehlte überhaupt nichts: Ich hatte bloß Migränekopfschmerzen, und Migränekopfschmerzen waren, wie jeder, der sie nie hatte, wusste, nur Einbildung.“

Joan Didion, 2008

Migräne wurde in der Vergangenheit oft bagatellisiert und häufig gar nicht erst erkannt, sodass viele Migränepatienten den Gang zum Arzt scheuten, weil sie nicht glauben konnten, dass die Medizin ihnen eine Linderung ihrer Symptome oder gar Heilung bieten kann. Doch vor allem neuesten Erkenntnissen durch Hirnaufnahmen, aus Genetik und Molekularbiologie verdanken wir es, dass ein allmähliches Umdenken im Umgang mit der Migräne und in ihrer Behandlung einsetzt.

Zeitdauer:
In statistischen Durchschnitt werden die Patienten ein- bis zweimal im Monat von einer Migräneattacke heimgesucht, die im Mittel mit eintägig andauernden Kopfschmerzen verbunden ist. Bei jedem zehneten Betroffenen tritt wöchentlich eine Attacke auf, bei jedem fünften beträgt die  Zeitdauer zwei oder drei Tage und beinahe jeder siebte hat mindestens die Hälfte des Monats mit seiner Migräne zu tun.

Auslöser:
Die auslösenden Faktoren sind vielfältig und von den betroffenen Personen kaum alle vermeidbar. So können z. B.

– Alkohol
– Flüssigkeitsmangel
– körperliche Anstrengung
– Monatszyklus
– psychischer Stress
– Wetterumschwing
– Wechsel der Jahreszeiten
– Allergien
– Schlafmangel
– Hunger
– Neonlicht

eine Migräneattacke auslösen. Betroffen sind Männer und Frauen, hauptsächlich aber zu zwei Dritteln Frauen zwischen 15 und 55 Jahren.

Ursache:
Als Ursache der Migräne wird nach neuesten Hirnaufnahmen eine neurologische Störung im Nervensystem angenommen, wobei die genauen Abläufe in ihrer Komplexheit noch nicht eindeutig geklärt sind. Als gesichert gilt, dass die Neuronen der Hirnrinde übermäßig aktiviert werden (Erregungswelle) und danach aus physiologischen Gründen über eine längere Phase gehemmt sind, in der diesselben Neuronen keine Signale mehr erzeugen können (Funkstille). Diese neurologische Störung wird bei einigen Migränepatienten als sogenannte Auraphase (Zeitdauer: ca. 20 bis 60 Minuten) wahrgenommen, in der visuelle Illusionen wie Lichtpunkte und Blitze und an denselben Stellen bald darauf blinde oder dunkle Flecken wahrgenommen werden.

Wenn viele aktivierte Neuronen Signale weiter leiten müssen, benötigen sie dafür viel Energie und damit eine hohe Blutzufuhr, während in Zeiten der Funkstille weniger Energie und damit eine geringere Blutzufuhr nötig wird. Diese Schwankungen der Blutzufuhr lösen dann die bei allen Migränepatienten nach der Auraphase auftretende Kopfschmerzphase aus.

Aufgrund der starken Erregbarkeit der Nervenzellen der Hirnrinde wird von vielen Wissenschaftlern angenommen, dass der Ionentransport durch die Nervenzellmembranen gestört ist, es sich bei Migräne somit um eine Ionenkanalkrankheit handelt, in der Ionenkanäle und -pumpen an den Nervenzellen falsch funktionieren. Andere Wissenschaftler widerum gehen davon aus, dass die Eregungsphase durch Fehlfunktionen im Hirnstamm zu suchen sind.

Für das Auftreten einer Aura bei einer Migräne als auch die Anfälligkeit für die Migräneerkrankung selbst, werden sowohl genetische als auch nichtgenetische Einflüsse diskutiert.

Bei Migräne handelt es sich um eine hochkomplexe Erkrankung, die noch nicht ausreichend erforscht ist, aber derzeit zunehmend Beachtung findet.

Betroffene:

Auch Charles Lutwidge Dodgson (Künstlernahme: Lewis Carroll) litt unter Migräne. Er schrieb das Kinderbuch: „Alice im Wunderland“, indem physikalische Gesetzte verdreht wurden. Hatten ihm seine Auraerlebnisse bei seinen Migräneattacken inspiriert?

Die Mystikerin Hildegard von Bingen (1098-1179) wurde schon zu Lebzeiten wegen ihrer geistigen Visionen als Heilige verehrt. Mediziner glauben, dass sie, aufgrund ihrer minituarisierten Bilder (u.a. die künstlerische Darstellung des Weltalls bei ihrem theologischen Hauptwerk: „Liber Scivias Domini“ -„Wisse die Wege des Herrn“) ebenfalls Auraerlebnisse mit verarbeitete.

Weltall-Darstellung aus dem Liber Scivias

Dr. Heike Jürgens

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Weiterführende Literatur/Quellen:

– Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2009,“ Migräne-Leider keine Einbildung, Als Ursache vermuten Forscher jetzt Erregungsdefekte im Hirnstamm“ von David W. Dodick und J. Jay Gargus
http://de.wikipedia.org/wiki/Joan_Didion
– http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/joan-didion/

http://de.wikipedia.org/wiki/Lewis_Carroll

http://de.wikipedia.org/wiki/Hildegard_von_Bingen

 

„Das weiße Album. Eine kalifornische Geisterbeschwörung“ von Joan Didion, broschiert,  220 Seiten, Rowohlt-Verlag 1997, deutsche Übersetzung

Kurzbeschreibung:

Joan Didions Prosa gehört zum Besten, was es im heutigen Amerika gibt. Sie schreibt über berühmt-berüchtigte Leute (Janis Joplin, Nancy Reagan, Doris Lessing), über die Frauenbewegung und die Black Panthers, über Hollywood und amerikanische Monumente wie die kalifornische Gouverneursvilla oder das Museum von Paul Ghetty. In allem beschwört sie die Reste des amerikanischen Traums, der auch im Scheitern nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat.

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